Alexander Kissler bespricht in der Süddeutschen Zeitung von gestern lobend das Buch "Kinder des Wortes" des Pfälzer Soziologen und Kabarettisten Hans-Peter Schwöbel.
In einem Aufsatz über die "Diktatur des rechten Winkels" wendet sich Schwöbel gegen die eine "Geometrisierung der Wirklichkeit" durch allgegewärtige Vierecke, Raster, glatte Flächen und exakte Symmetrien und formuliert den - so Kissler - "rettenden Imperativ":
"Wir müssen darauf bestehen, daß gerade Linie, rechter Winkel und ausgeräumte Flächen in der Natur nicht Ordnung bedeuten, sondern extreme Formen von Unordnung, weil sie komplexe Ordnungen zerstören."
Eine Spur, die auf Adorno zurückweist, sei das und darüberhinaus getragen vom Impuls, daß "die Sorte um den Fortbestand der Schöpfung praktisch" werde. Mit Adorno kenne ich mich nicht aus, dafür aber ein bißchen mit dem hl. Gilbert Keith. Ich mußte also gleich an seinen kleinen Essay "Die Telegraphenmasten" denken, im Original lange vor Adorno in "Alarms and Discursions" (1910) erschienen, in deutscher Übersetzung in "Ballspiel mit Ideen" (1963).
Chesterton erzählt von einer Wanderung mit einem Freund durch einen Kiefernwald, der sich eintönig und gleichförmig dahin zieht und ihn zu einer Meditation über die Gleichförmigkeit in der Natur veranlasst: Vielleicht wiederholen sich die Dinge nicht, damit wir mit ihnen vertrauter werden, sondern "damit sie uns nicht mehr geheuer erscheinen". Irgendetwas "Wahnwitziges" lauere in der "musikalischen Eintönigkeit der Kiefern", eine typisch chestertonianische Beobachtung, der ja immer und überall, vor allem aber im Einerlei und im Alltäglichen, das Abenteuer wittert.
"Warte nur," sagt darauf der Freund, "bis wir an einen Telegraphenmast kommen!" Plötzlich wurden die eintönigen, gerade gewachsenen Kiefern krumm - und lebendig. "Die aufrechte Stange in ihrer Vereinzelung entstellt mit einem Mal den Wald und setzte ihn in Freiheit." Der Freund darf noch eines daraufsetzen:
"Man weiß nicht, was für eien verdammt schlimme Sache Geradheit ist, wenn man die Bäume für gerade hält. Man wird es erst wissen, wenn uns unsere Zivilisation einen 50 km langen Wald von Telegraphenstangen beschert."
Chesterton wäre nicht Chesterton, sondern ein langweiliger konservativer Kulturkritiker, wenn er es dabei beließe. Denn für ihn sind die Telegraphenmasten auch ein "Symbol der Demokratie", für die wenigen, die die Telegraphenlinie mit ihren Masten planten, und die vielen, die den Wald hegten, aus dem sie stammen. Daß sie häßlich sind, geht auf das Konto "kommerzieller Anarchie" - genauso gut könne man sie "in Elfenbein schnitzen und mit Gold überkleiden".
Über solcherlei Betrachtungen wurde es dunkel im Kiefernwald, die beiden Nachtwanderer stolperten durchs Dickicht, stießen sich Knie und zerrissen sich die Hosen. Wer weiß, ob sie ohne Telegraphenmasten hinausgefunden hätten zwischen den Kiefern, die in Dämmerung und Nacht ihren Schabernack trieben. "Ich kann keinen Telegraphenmat finden. Ich schaue ständig danach aus" - "Mir geht's ebenso so, ... sie sind so gerade."
So einfach ist es also nicht, weder mit der stereotypen, das Auge und die Natur vergewaltigenden menschlichen Geometrisierung, noch mit der schöpferischen Natur, deren Vielfalt und Wildwuchs der Mensch letztlich gleichgültig ist. Ich halte diesen kleinen, in eine Erzählung gepackten Essay für eines von Chestertons Meisterstücken, komprimiert und pointiert, ohne daß wir ihn auf den Punkt bringen könnten.
26. August 2009
Philosophieren im Kiefernwald
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