"Blab driwwe, däss de ni doudgefoän wässd!", rief die 80jährige Witwe heute ihrer 85jährigen, ebenfalls verwitweten Nachbarin über die "Gasse" hinüber zu. Nicht herausfordern soll man den Tod - aber verschweigen genauso wenig. Seine Allgegenwart ist in diesen Tagen, wo man auf dem Kirchhof die Gräber richtet, besonders auffällig. Aber das liegt vielleicht nur daran, daß ich heute Urlaub hatte, zu Fuß unterwegs war und mit einigen "Seniorinnen" ein Schwätzchen halten konnte.
Da philosophiert man dann über das Alter, über die Kinder und Enkel, die einem über den Kopf wachsen, über die schönen Herbsttage, die man noch zum Einkaufen und Spazieren nutzt - denn der Winter kommt schnell, da ist es kalt, glatt, gefährlich und die alten Frauen gehen nicht mehr gerne vor die Türe. Da erzählt man sich von dem Mann, der letzthin auf der Straße zusammenbrach und nach über einer Woche beerdigt wurde - "die houn en jo erschd setziern misse". Und man verabschiedet sich, um bei einer anderen alleinstehenden Nachbarin vorbeizusehen: Erst galten die Besuche ihr und ihrer alten Mutter; jetzt setzt man sie für die überlebende Tochter fort.
Der Tod sitzt schon lange mit am Tisch; die Generation der 70- bis 90jährigen Frauen kennt ihn seit Kindestagen: nach dem "ersten Krieg" groß geworden, später den Mann oder Vater in Rußland verloren, hat man inzwischen die eigenen Eltern, Männer, Geschwister, auch Kinder zu Grab getragen. Durchschnittlich gehen diese Frauen wohl jede Woche zu einer Beerdigung - nicht aus Neugier oder Langeweile, sondern in Erfüllung eines ungeschriebenen Gesetzes, "weil es sich so gehört". 70 Stunden im Jahr Totengedenken, Trauer und Überwindung von Trauer, Erfahrung von Heimgang und Heimgeholt-werden, Rituale des Abschieds - Weihwasser am Sarg, Erde am Grab, Leichenschmaus in der "Krone" oder beim "Adler". Gebet für andere, daß die Engel sie zum Paradies begleiten mögen - und das klare Wissen darum, daß jeder neue Tag, der doch Grund zur Dankbarkeit ist - "däss mä noch uff und nauskenne"-, wieder 24 Stunden näher ans eigene Grab führt. "Äwwä sterwe well isch noch ni", sagt die 97jährige, so direkt wie ihr ganzes Leben lang. Dem Unvermeidlichen ins Auge sehen, mit Angst, Geduld, Einsicht, Erwartung, Verzweiflung, Hoffnung, mit der je eigenen Mischung all dessen.
Schweigsamer die Männer, aber auch sie wissen, daß sie nur Überlebende sind: gestern der beste Freund aus Schultagen, und wer weiß, nächstes Jahr stehen die Kinder an Allerheiligen am eigenen Grab. Einen Herzinfarkt, eine Bypass-OP hatte man schon, und manchmal geht es ganz schnell - den einen Tag gesund, und am nächsten tot umgefallen, oder kalt im Bett gelegen. Die Hoffnung, die diese Männer und Frauen haben, ist schlicht und handfest, abgenutzt wie ein Spaten oder ein Beil, das einem über Jahrzehnte gute Dienste tut; man weiß noch, wo man das Werkzeug kaufte, behandelte es gut, hielt es sauber, schärfte es regelmäßig nach - so wird es durchhalten und noch verwendet werden können von den Erben. Nein, gegen ein neues Stück tauscht man es jetzt nicht mehr, so kurz vor Schluß.
--- Einen passenden Schluß hätte ich mir gern noch überlegt, aber da kommt mein jüngster, 3 Monate alter Neffe mit seinen Eltern zu Besuch und legt ihn mir sozusagen in den Schoß.
31. Oktober 2005
Souvenirs eines arbeitsfreien Tages
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