Kommt nach allen den anderen Kehren jetzt wieder ein "substantial turn" in der Philosophie? Hans Ulrich Gumbrecht hat sich "Diesseits des Sinns" umgetan und präsentiert seine Beobachtungen im Merkur:
"Nichts Schlimmeres konnte noch vor wenigen Jahren einen um sein Ansehen besorgten Intellektuellen treffen als der Vorwurf, »essentialistische« oder gar »substantialistische« Aussagen zu machen. Nicht auf den aristotelischen Substanzbegriff im Sinne einer »Einheit von Materie und Form« bezogen sie sich, sondern auf den Verdacht, man unterstelle die Existenz oder gar die Zugänglichkeit einer Wirklichkeit außerhalb des Bewußtseins. Mittlerweile ist es möglich geworden, höflich zurückzufragen, wie denn so ein Substanzvorwurf gemeint sei oder, etwas aggressiver, ob es nicht vielleicht gute Gründe geben könne, mit Wirklichkeiten außerhalb des Bewußtseins zu rechnen."
"Wenn man den Konvergenzpunkt der Sehnsucht in all diesen intellektuellen Bewegungen (tentativ und vergröbernd natürlich) »Substantialität« nennt, so ist hinzuzufügen, daß es um mehr und um anderes geht als um das abstrakte Postulat einer vom menschlichen Bewußtsein und seiner Perspektivik unabhängigen Wirklichkeit. (...) »Substantialität« steht auch und vor allem für eine (nicht nur psychische) Wärme, für eine Dichte und vielleicht auch für eine Unberechenbarkeit des Lebens, die sich nicht vollends auf Leistungen des Bewußtseins reduzieren lassen. So gesehen ragt die hier intendierte Referenz des Begriffs »Substantialität« in die Dimension des Phänomenalen, das heißt: des Gelebten und Erlebten, obwohl er innerhalb der Semantik philosophischer Tradition gerade außerhalb des Phänomenalen liegen soll."
"Ästhetische Erfahrung, könnte man sagen, sei Erfahrung an der Grenze zwischen Noumenalem und Phänomenalem (oder an der Grenze zwischen Phänomenalem und dem durch Sinn Erreichbaren), die Erfahrung des Seins als Substanz, wie sie das menschliche Bewußtsein immer nur streifen kann. Und eben weil es sich um Erfahrung an einer Grenze handelt, läßt sie sich nur im Rahmen extremer temporaler Bedingungen denken, zum Beispiel denen von Plötzlichkeit und unwiderruflichem Vergehen.
Doch die Sehnsucht, von der hier die Rede war, geht wohl dahin, Substantialität nicht allein unter Sonderbedingungen zu haben. Vielleicht wird es zunächst einmal – in Abwesenheit philosophischer Begriffe und in der Unmöglichkeit eines nächsten philosophischen Schritts – zu so etwas wie einer »philosophischen« Lebensform werden, Momente von Substantialität zu suchen, zu genießen und andere auf sie zu verweisen."
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