20. März 2011

In der Kirche leben (10)

Wieder einmal Henri de Lubac, mit dem nächsten Abschnitt des Kapitels "Der Mensch der Kirche" aus seiner "Méditation sur l'Eglise". Man könnte meinen, er schreibe ein Psychogramm seines Freundes Joseph Ratzinger. Aber dabei meint er uns genau so mit dem Folgenden:

"Er [der Mensch der Kirche; Scipio] ist ein Glied des Leibes; und wo immer sein Standort und Auftrag liegen mag: er ist für das, was die andern Glieder erleben, nie unempfindlich. Alles, was den Leib als ganzen lähmt, drückt, verwundet, fühlt er mit. Er leidet also an den innern Schäden der Kirche. Er möchte, daß sie an all ihren Gliedern reiner, geeinter wäre, aufmerksamer für die Not der Seelen, tätiger in ihrem Zeugnis, brennender in ihrem Durst nach Gerechtigkeit, geistlicher in allen Dingen, entschiedener gegenüber jeder Konzession an die Welt und ihre Lüge. Sie müßte nach ihm allezeit mit ihren Kindern 'ein Pascha der Aufrichtigkeit und Wahrheit feiern'. Obschon er keine utopischen Träume hegt und es nicht unterläßt, sich selbst zuerst anzuklagen, duldet er es nicht, wenn Jünger des Herrn sich im Allzumenschlichen installieren, oder wenn sie am Rand der großen Menschheitsbewegungen hindämmern. Spontan vermerkt er das Gute und freut sich darob, verweist auch gern darauf, ohne deswegen blind zu sein für Fehler, die manche leugnen möchten, während andere sich daran ärgern. Weder seine loyale Haltung zur Kirche noch die Erfahrungen, die er in ihr gemacht hat, verpflichten ihn seiner Meinung nach dazu, jeden Mißbrauch gutzuheißen. Übrigens weiß er auch, daß durch bloßes Dauern vieles sich überlebt, während anderes, wenn man schädliche Neuerungen vermeiden will, aufgefrischt werden muß und daß 'der Kirche ein Zug zu ihrer Selbstreform natürlich ist'. Er ist nicht 'auf die Vergangenheit versessen'. Darum will er auch nicht von vornherein jeden Wunsch und Versuch der Änderung der zeitlichen Dinge anprangern oder entmutigen. Er sucht vielmehr die Geister zu unterscheiden. Sucht mit den Suchenden. Möchte keinesfalls durch übereilte, starre Strenge das Werk Gottes hindern oder notwendige Entwicklungen hemmen, weil ein paar Fehlentwicklungen vorkommen. Statt den Schwung einer Bewegung zu brechen, wird er versuchen, sie in die rechte Bahn zu lenken. Wenn aber die Umstände sein Eingreifen fordern, wird er sich nicht entziehen. Doch bleibt er bestrebt, sich durch nichts als seinen Glauben bestimmen zu lassen. Er fühlt, zuweilen bis zur Angst, die doppelte Art von Verantwortung, die auf ihm lastet: als Diener Christi, verantwortlich für seine Lehre, fürchtet er durch Entgegenkommen deren volle Wahrheit zu verraten oder durch menschliche Systeme die göttliche Autorität aufs Spiel zu setzen; als Seelenführer aber fürchtet er, den christlichen Glauben, von dem sie leben sollen, zu schwächen, oder durch übertriebene Forderungen ihn für sie unerträglich zu machen. Und doch: was ihn derart bedrängt, hilft ihm auch, seiner Ratlosigkeit Herr zu werden." (Die Kirche.- Einsiedeln: Johannes, 1968, S. 229-230)

Zum vorigen Abschnitt hier.

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