21. August 2008

sprinz

"Sprache im technischen Zeitalter" oder kurz: spritz, so nennt sich eine der großen deutschen Literaturzeitschriften.

Eigentlich, so denke ich mir, wird allmählich sprinz fällig, "Sprache im neurowissenschaftlichen Zeitalter". Aktuell wird zwar vor allem debattiert, ob es Willensfreiheit gebe oder ob es sie nur ein nachgelagertes, kulturelles Konstrukt sei, aber machen wir uns nichts vor: Da steht letztlich das ganze menschliche Selbstverständnis auf dem Spiel.

"Die Sonne geht unter" - diesen Satz sagen wir nachkopernikanisch nur noch metaphorisch. Die Erde kreist um die Sonne und dreht sich um die eigene Achse, und dabei "verschwindet" die Sonne nun mal aus dem Blick. Sie sinkt nicht, sie "sinkt" höchstens. Und wer uns Erwachsene, Aufgeklärte belehren will: "Aber sie geht nicht unter, sie sinkt nicht. Das bildest du dir nur ein. Eigentlich dreht sich ja die Erde etc." - den schauen wir verständnislos an: "Ja, klar, weiß ich doch. Ich - und mit mir alle anderen - meinen das nicht wörtlich, sondern im Rahmen einer sprachlichen Konvention, die zwar unserem Sinneseindruck entspricht, aber keine kosmologischen Ansprüche erhebt."

Bei der aktuellen kopernikanischen Revolution steht uns eine entsprechende Revolutionierung der Sprache noch bevor. "Mir scheint der Satz 'Nicht das Ich, sondern das Gehirn hat entschieden!' korrekt zu sein", so Gerhard Roth, Philosoph und Hirnforscher. Und trotzdem sagt er morgens immer noch zu seiner Frau: "Ich hätte gerne die Butter." Selbst wenn er und seine Frau - keine Ahnung übrigens, ob er verheiratet ist, aber mir geht es ja um was anderes -morgens wissen, daß er eigentlich meint: "Mein Gehirn begehrt aus einem ganzen Komplex neuronaler Prozesse heraus, Butter aufs Brot zu schmieren und gibt deinem Gehirn ein Signal, mir, als dem zu meinem Gehirn gehörigen Körper, die Butter zu reichen - Deinem Gehirn, das aufgrund eines ebenso großen Komplexes neuronaler Prozesse heraus dieses Signal positiv beantworten wird, in der Regel jedenfalls, außer andere neuronale Prozesse überwiegen und Dein Gehirn lässt äußern: 'Hol sie dir doch selber' usw. usf.", also selbst wenn sie morgens ihre triviale Unterhaltung so führen und verstehen wie sie am Vorabend zueinander sagten: "Die Sonne geht gerade unter." "Ja, ich sehe sie sinken." - dann möchte ich doch wiederum wetten, daß sie in ihrer hoffentlich glücklichen Ehe viele Momente erleben und miteinander teilen, wo ihnen diese dauernde Entschärfung vermeintlich realistischer Ausdrucksweisen nicht gelingt.

"Ich liebe dich." - Diesen in einem bestimmten Moment von einem "Ich" zu einem anderen "Ich" gesagten Satz irgendwie hirnwissenschaftlich korrekt zu übersetzen, zu entrealisieren - das mag für einen Außenstehenden möglich sein, aber für Herrn und Frau Roth nicht, nicht in diesem Augenblick. Auch sie werden ihn immer noch so nehmen, wie Herr und Frau Scipio, und immer noch so reagieren wie diese beiden: mit einem Kuß zum Beispiel oder mit Dankbarkeit. (Und weder Kuß noch Dankbarkeit dabei entschärfen, entrealisieren, sozusagen in Gänsefüßchen setzen.) Sollte Herr Roth es dennoch wagen und mit Berufung auf seine wissenschaftlichen Erkenntnisse Kuß, Dankbarkeit oder beides verweigern, gibt ihm seine Frau einen Tritt, zickt zwei Tage oder reicht im Wiederholungsfall die Scheidung ein.

Das beweist nichts über die Richtigkeit hirnwissenschaftlicher Erkenntnisse und der daraus gezogenen Schlußfolgerungen. Und vielleicht findet sich ja für Herrn Roth ein guter Grund oder eine gute Begründung, beide Welten mit ihren zugehörigen Sprachen getrennt zu halten. (Roth an anderer Stelle: "Wir handeln aus Ursachen, aber wir erklären dieses Handeln mit Gründen.")

Sollten Werte wie Konsequenz, Aufrichtigkeit, Authentizität, Ehrlichkeit aber weiterhin gültig sein, was ja wiederum so sicher auch nicht ist, dann allerdings wäre die große Sprach- und Denkrevolution fällig. Dann müßte jedes Wort - oder jedes zweite - in Gänsefüßchen gesetzt werden. Dann würde wohl auch die ganze Konstruktion der Wirklichkeit, der Welt eine radikal andere. Dann würden sich unsere Enkel über die Naivität, mit der wir über Butter und Liebe reden, genauso amüsieren wie wir uns über jene Bürger der antiken Welt, die hinterm Horizont oder den Säulen des Herakles den gähnenden Abgrund am Rand der Erdscheibe vermuteten. Und über die Romane des Terry Pratchett dieses kommenden Äons mag ich lieber nicht spekulieren - sie wären wohl unerträglich zynisch, für mich, für uns und auch für die Herren Singer, Roth & Cie...

1 Kommentar:

dilettantus in interrete hat gesagt…

Zum Spritz nur das

Die Frage mit dem Willen hat doch Erasmus gegenüber Luther hinreichen geklärt!