"Einer der zahlreichen Mythen, die der religiöse Liberalismus über die Jahrhunderte hinweg gepflegt hat, ist die Behauptung, dass Dialog und gegenseitiger Respekt zwischen den Glaubensgemeinschaften stets möglich seien. Das mag für liberale Gruppierungen zutreffen, aber es ist nachweislich falsch im Blick auf orthodoxe Traditionen, die dem spirituellen Schicksal des Menschen mehr Bedeutung beimessen als seinem irdischen Dasein. Im heutigen Konflikt zwischen religiöser Orthodoxie und modernem Liberalismus geht es letztlich nicht um Werte wie Frieden oder Toleranz; es geht um die Frage, ob die Religion die Dienerin einer guten Politik sein soll oder ob die Politik lediglich ein Werkzeug im Dienst der wahren Religion sei. Diejenigen, die an den Primat der Offenbarung glauben, stehen am einen Ufer und fragen sich, wie sie ihre Politik mit dem göttlichen Willen in Einklang bringen können. Die anderen, die jenen Glauben nicht teilen, befassen sich mit der Frage, ob die Religion zum Frieden und zur Bereicherung des modernen Lebens beitragen könnte. Dazwischen gibt es keine Brücke, nur einen reissenden Fluss." (Mark Lilla: Meisterin der Politik - Magd der Politik (NZZ))
13. November 2006
In der Mitte der reißende Fluß
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