In den Kommentaren wurde bemängelt, die FAZ hätte statt den Benediktiner Müller, geboren 1914, lieber einen Pfarrer Müller, geboren 1974, Priesterweihe also ca. 2001 zu Wort kommen lassen sollen, "der ein paar Jahre nach der Weihe und dem anfänglichen euphorischen Gefühl des 'Von-den Menschen-getragen-seins' allein in einem verwaisten Pfarrhaus sitzt." Das ist sicher kein schlechter Vorschlag, aber Zölibat hin oder her, ich halte dafür, auch den ganz grundsätzlichen Kontext zu sehen, in dem sich Pfarrer Müller bewegt. (Ansonsten könnte man am Ende doch noch meinen, katholische Priester hätten das "Geworfensein ins Nichts" entdeckt.)
In sein Wohnzimmer kann ich nicht schauen, aber vielleicht doch ein paar Blitzlichter in seine Pfarrei werfen. "Homo sum; nihil humanum a me alienum puto."
Und in dieser Gemeinde rund ums verwaiste Pfarrhaus sehe ich zum Beispiel eines jener "überaus dicken mädchen", über die Kurt Marti ein ergreifendes Gedicht (teilweise hier) geschrieben hat. Sie hatte, im Rückblick wird es klar, nie eine Chance auf eine geglückte Beziehung - umso mehr aber die 24/7-Dauerversuchung zur Verbitterung.
Ein paar Häuser weiter, am gleichen Abend, der Vater zweier fast erwachsener Kinder, dessen Frau ihn vor zwei Tagen nach 23 Jahren Ehe verließ, weil sie ihrer ersten (und plötzlich auch: einzig wahren) Liebe wiederbegegnet ist. Out of the blue. Die dritte von noch ungezählt vielen einsamen Nächten hat er vor sich.
Um die Ecke vor dem Einschlafen denkt die sehr religiöse junge Karrierefrau, die bald den Mann ihrer Träume heiraten wird, ein paar Minuten nach, bevor sie süß entschlummert. Sie hatte heute in der Kantine einen verheirateten Kollegen gefragt, ob es denn wirklich möglich sei, daß zwei Menschen in der Ehe alles, wirklich alles miteinander teilen könnten, nicht nur Tisch und Bett. Die Antwort war halbherzig gekommen: "Ja, vielleicht. Das kann schon gehen. Ja, ich glaub' schon, daß das möglich ist." Überzeugend hatte das nicht geklungen und tatsächlich - aber das wusste sie nicht - hatte der befreundete Kollege seine diesbezüglichen Illusionen nach drei Jahren Ehe inzwischen ausgemustert. Da war immer jener unmitteilbare Rest, immer jene Stelle, an der er litt, wo er einsam war.
Fast genauso verwaist wie das katholische war das evangelische Pfarrhaus: Pastor Maier war nach seiner Scheidung versetzt worden; Frau Maier hatte sich mit den Kindern eine Dachwohnung in der Kreisstadt gesucht. Bye bye love, hello loneliness, I think I'm goin' to cry. Die Everly Brothers klangen geradezu verlogen fröhlich. Frau Maier drückt auf den roten Knopf.
Im Nachbarhaus Frau Schulz, deren Mann nach längerer Arbeitslosigkeit wieder einen Job hatte: Montage in Dubai oder sonstwo in den Golfstaaten. Schlecht für die Ehe. Kinder waren zum Glück keine da, die ihren Vater in der Schule von den Familienbildern hätten streichen können: "Wo der Papa ist? Der ist doch immer auf Montage, Frau soundso ..."
Überall um Pfarrer Müller herum werden also jene großen Schlachten geschlagen, tagein und tagaus, die Philo von Alexandrien in seinem bekannten Zitat meinte: "Sei gütig, denn jeder, den du triffst, kämpft einen schweren Kampf!"
Das alles ist keine Antwort, ich weiß, und Schmerzen werden nicht kleiner, nur weil man weiß, daß es anderen ebenso weh tut. Aber für uns wenigstens ist es wichtig zu wissen, ob und wie sehr Einsamkeit eine Berufskrankheit ist - oder nicht vielleicht doch ein besch... Teil der conditio humana.
Horchen wir also mit Rhonda Vincent weiter in die Dunkelheit hinaus:
"Now listen close and you can hear
Their mournful cries ring through the darkness
Lovers lost and all alone
Spirits two forever roam"
2. April 2008
Ich bin so einsam, ich könnt' weinen (Hank Williams - aber nicht nur)
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
10 Kommentare:
Hallo,
ich hab Dir irgendwann schonmal geschrieben...
Es heißt lateinisch richtig: intellegam , also mit E !
Solltest Du mal ausbessern...
intellego, intellegis, intellegit
Konjunktiv: intellegam, intellegas, intellegat...
lg theolounge
Mach ich gerne, aber zuerst, bitte, soll auch der Anselm sein "i" in ein "e" ändern. (Vgl. http://hiphi.ubbcluj.ro/fam/texte/anselm/proslogion.htm, 0227C)
Wer spricht ihn mal an? ;-)
Der Link wird nicht richtig dargestellt, daher nochmal hier:
http://hiphi.ubbcluj.ro/ fam/texte/anselm/ proslogion.htm
Die Leerzeichen nach dem Kopieren und Einfügen bitte wieder rauslöschen.
Scipio, Dein schöner Text zum Thema Einsamkeit hat es nicht verdient, mit so einem mickerigen Schulmeister-Kommentar wie dem ersten hier bedacht zu werden...
Natürlich wirst du zugunsten der Werktreue nichts ändern. Und da es sich um Mittellatein handelt, greifen besserwisserische Vorschläge nicht. Das ist nämlich halbes Italienisch.
Aber ich sehe, dass du jetzt auch noch unter die Dichter gehst. Die Einträge werden ja immer poetischer!
@harki:
Joh 19, 22. Jetzt, nach mehr als 5 Jahren, würde ich nicht einmal mehr einen Fehler ändern...
@elsa:
Ich poetisch? Wie kommst Du darauf? [Scipionisches Lächeln]
(Übrigens: Post ist unterwegs als "Büchersendung" - ohne Karte oder sonst sichtbare persönliche Grüße. Die musst Du Dir zuzudenken.)
Vielen Dank, lieber Scipio, für diesen nachdenklichen und zum Nachdenken anregenden Text, zu dem mein Kommentar offenbar Anlaß gegeben hat. Ich stimme Dir aus vollem Herzen zu - es gilt den ganz grundsätzlichen Kontext zu sehen, in dem sich Pfarrer Müller bewegt. Und darüber hätte ich eben gern von so einem Pfarrer Müller selbst etwas gelesen. Lebt er seinen Zölibat tatsächlich in und aus einer solchen Solidarität? Wurde ihm dieser Aspekt des zölibatären Lebens je erschlossen? Nun hat Pfarrer Müller aber jemanden gefunden, der ihm eine Stimme gegeben hat - dafür nochmals Dank.
Herzlich - die Kommentatorin.
Liebe Anonyma,
vielen Dank!
Dem Pfr. Müller wollte ich eigentlich keine Stimme geben. Unsereinem schon. Vielleicht lässt er von sich hören. Bis dahin und drüberhinaus braucht er uns aber.
Joh 19/22:
Quod screpsi, screpsi
(Wie Pelatus neulich in der Lounge sagte!)
Zurück zum Ursprungseintrag.
Meine ev. Freundin meinte neulich, wir sprachen (positiv) über meinen katholischen Pfarrer: Hm, der ist doch in deinem Alter? Ja, meinte ich. Wieso? Und dann sie: Hach, das ist doch perfekt, dann könnt ihr ja so richtig schön miteinander alt werden.
Ja äh, ähem, lachte ich, in globalem Sinne schon (natürlich nicht in einem anderen, speziellen Sinne).
Und das habe ich ja auch vor (das globale, nicht das spezielle).
Ich fand es nur interessant, dass eine so positive Einschätzung eines zölibatär lebenden Seelsorgers von jemandem kommt, der evangelisch ist. Von den Katholischen kommt dagegen öfter: Hach, der Ärmste, sollen sie ihn doch heiraten lassen, etc. etc.
Kommentar veröffentlichen