19. Juni 2005

Sehübung

Aus dem Roman "Hitze" von Ralf Rothmann (Frankfurt: Suhrkamp, 2005, S. 212f.):

"Man sieht immer weniger. Man wird blind von all dem Augenmüll."

Sie drehte sich um. "Was meinst du?"

Auf einer Brust der Abdruck seiner Hemdknöpfe, und sie biß sich auf die Unterlippe, zog die Haut etwas nach innen und betastete den toten Fisch mit den Zehen. Die Nägel waren klar lackiert. DeLoo zeigte zum Ufer.

"Schau da hin. Was siehst du neben dem Steg?"

"Dort? Eine Blume."

"Genauer."

"Eine schlanke blaue Blume mit gelben Fäden. Eine Art Iris, oder so."

Er nickte. "Eine Wasserlilie. Und jetzt schau sie noch mal an und denke: Das ist keine Blume, keine Lilie. Das sind nicht die Farben Gelb und Blau. Und das dahinter ist kein See, kein Schilf, kein Waldrand und hat auch nicht die Farbe Grün ... Na los, sags dir! Innig."

Sie runzelte kurz die Brauen, doch dann bewegte sie die Lippen, als memorierte sie das gerade Gehörte. Dabei sah sie still zum Ufer; ihre Pupillen wurden größer, die Nasenflügel zuckten. Und plötzlich durchschauerte sie etwas, ganz leicht nur, doch in der Halsdrube und an den Brustansätzen veränderte sich die Haut wie nach einer Berührung. Sie kniff die Lider zusammen, schüttelte sich.

"Uh! Das ist aber unheimlich, oder? Als hätte das alles plötzlich eine Stimme."

Er nickte, riß einen Grashalm aus, kaute darauf herum. "Das meinte ich. Jetzt hast du wirklich gesehen. Bilder oder Wörter können vielleicht einiges beleuchten. Aber irgendwann verstellen sie es auch. Lampenschirme, durch die kein Licht dringt."

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