10. April 2009

Nacht, geliebte Tochter

"Aber vor allem, Nacht, erinnerst du mich an jene Nacht.
Und ich werde mich ihrer in Ewigkeit erinnern.
Die neunte Stunde hatte geschlagen. Es war im Land meines Volkes Israel.
Alles war vollbracht. Das ungeheuerliche Abenteuer.
Seit der sechsten Stunde herrschten Finsternisse über dem ganzen Land, bis zur neunten Stunde.
Alles war vollbracht. Reden wir nicht mehr davon. Es tut mir weh.
Dieser unglaubliche Abstieg meines Sohnes unter die Menschen.
Zu den Menschen.
Und was haben sie daraus gemacht.
Diese dreißig Jahre, da er ein Zimmermann war unter den Menschen.
Diese drei Jahre, da er eine Art Prediger war unter den Menschen.
Ein Priester.
Diese drei Tage, da er ein Opfer wurde unter den Menschen.
Inmitten der Menschen.
Diese drei Nächte, da er ein Toter war unter den Menschen.
Inmitten der toten Menschen.
Diese Jahrhunderte und Aberjahrhunderte, da er eine Hostie ist unter den Menschen.
Alles war vollbracht, dies unglaubliche Abenteuer
Durch das mir, Gott, die Hände gebunden wurden für immer.
Dies Abenteuer, durch das mir mein Sohn die Hände gebunden hat.
Um auf ewig, bindend die Hände meiner Gerechtigkeit, auf ewig zu lösen die Hände meiner Barmherzigkeit,
Und gegen meine Gerechtigkeit eine neue Gerechtigkeit zu erfinden.
Eine solche der Liebe. Eine solche der Hoffnung. Alles war vollbracht.
Alles, was sein sollte. Was da gesollt war. Wie es meine Propheten verheißen hatten. Der Vorhang des Tempels war zerrissen, mittendurch, von oben bis unten.
Die Erde hatte gezittert, die Felsen sich gespalten.
Die Gräber standen offen, und viele Leiber der Heiligen, gestorbene, waren erstanden.
Und ungefähr um die neunte Stunde hatte mein Sohn
Den Schrei ausgestoßen, der nie mehr verhallt. Alles war vollbracht. Die Soldaten waren heimgekehrt in ihre Kasernen.
Lachend und scherzend, weil wieder ein Dienst zu Ende war.
Ein Postenstehn, das gottlob vorbei war.
Nur ein Hauptmann blieb noch zurück und einige Männer.
Ein ganz kleiner Posten, um diesen Galgen ohne Bedeutung zu hüten.
Den Galgen, an dem mein Sohn hing.
Nur ein paar Frauen waren geblieben.
Die Mutter war da.
Und vielleicht auch einige Jünger, aber auch das ist nicht ganz sicher.
Nun aber hat jeder Mensch das Recht, seinen Sohn zu begraben.
Jeder Mensch auf Erden, wenn ihn das große Mißgeschick trifft
Nicht vor seinem Sohn gestorben zu sein. Und ich allein, ich Gott,
Die Hände gebunden durch dieses Abenteuer,
Ich allein in jener Stunde, Vater nach soviel Vätern,
Ich allein konnte meinen Sohn nicht begraben.
Da war es, o Nacht, daß du kamst.
Meine geliebte Tochter unter allen, ich seh es noch und werde es die ganze Ewigkeit lang sehen.
Da war es, o Nacht, daß du kamst, und unter einem großen Linnen begrubst du
Den Hauptmann und seine römischen Mannen
Die Jungfrau und die heiligen Frauen
Und diesen Berg und dieses Tal, über die der Abend sich neigte,
Und mein Volk Israel, und die Sünder, und mit allen zusammen auch jenen, der starb, der gestorben war für sie alle.

Und die Männer Josephs von Arimathäa, die schon nahten

Mit einem weißen Linnen."

(Charles Péguy: Das Tor zum Geheimnis der Hoffnung.- Einsiedeln: Johannes, 1980, S. 170-172 (in der Übersetzung von Hans Urs von Balthasar))

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