24. Juli 2008

Wandernder Sog

"Fünfundvierzig. Es ist seltsam, wie wenig man sich verändert. Die Psychologen haben vollkommen unrecht mit der Pubertät. Die Pubertät verändert nichts. Heute morgen bin ich mit genau der gleichen kosmischen sexuell-religiösen Sehnsucht aufgewacht wie damals, als ich zehn Jahre alt war. Nichts verändert sich außer Nebensächlichkeiten: die Zehen kreisen und zeigen mehr Haut. Jedes Molekül im Körper ist ausgetauscht, aber man ist noch genau der gleiche.

Die Wissenschaftler haben unrecht: der Mensch ist nicht definiert durch seine eigenen Säfte, sondern er ist ein Strudel, ein wandernder Sog in seinen Säften."
- Dixit Dr. Thomas More in Walker Percys Liebe in Ruinen (Frankfurt: Suhrkamp, 1980, S. 180)

Worauf die Neurowissenschaftler und Entwicklungspsychologen erwidern könnten: Das denkst Du Dir nur, Tom. Du erzählst Dich immer wieder, und mit jeder Erzählung veränderst Du Dich. Du baust neue Erfahrungen ein, stellst andere, ältere in den Hintergrund und schichtest dabei Deine Deine Autobiographie um. Zentrale Motive, bestimmte Farben Deines Ichs mögen gleich bleiben, wichtige sogar, aber andere ändern sich Dir unter der Hand, ohne daß Du es merkst. Du ziehst alles, was Dir begegnet, in Dich hinein, filterst, kombinierst, suchst passende Puzzlestückchen, dockst sie an an das, was Du schon in Dir hast, an das begonnene Puzzle, ersetzt manches, nimmst manches weg ohne Ersatz zu haben. Du bist nicht mehr genau der gleiche. Das Ich ist nicht der Kern, es ist die beständige Schale, deren Inhalt sich wandelt, sich immer weiter und immer wieder konstruiert. Du siehst Deinen Moment und Deine Erinnerung ist ein Teil dieses Deines Moments, doch wenn Du Dich über die Zeit hin sehen könntest: Du würdest nicht mehr leichthin sagen: Ich bin der gleiche wie vor 35 Jahren.

Und wieder Tom: Das mag alles stimmen, aber das meine ich nicht. Ich bin auf etwas gestoßen, I am on to something. Diese Sehnsucht, dieser Sog - das ist es. Hatte ich ihn nicht schon mit zehn oder zwölf, an jenen Sommerabenden, wo durchs offene Fenster der Lärm der Grillen drang, in der Nase noch der Chlorgeruch vom Schwimmbad, die vom Sonnenbrand rote Haut begann zu brennen, Gesichter, Satzfetzen wehten mir durch den Sinn? Ich war genau da und hier und jetzt, und doch woanders. Offenstehend, hinausragend nicht in kosmische Kälte, sondern in medias res, in die Mitte der Dinge. Erfüllt und doch dahinter ein Raum, der auf Erfüllung wartete, der sich mit jeder Erfüllung neu weitete?

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