7. September 2003

Walker Percy: Über die Schüchternheit

"Frage: Wenn Sie schüchtern sind, ist es dann besser, Sie akzeptieren Ihre Schüchternheit, oder ist es besser, Sie suchen Hilfe bei einem Psychotherapeuten, damit Sie ein selbstbewußter, unverklemmter Mensch werden, oder vielleicht, Sie lesen ein Buch darüber, wie man seine Schüchternheit überwindet?

(a) Es ist besser, Sie suchen Hilfe bei einem Psychotherapeuten, weil es besser ist, nicht zu leiden, als zu leiden. Psychiater und Psychologen behandeln Störungen. Schüchternheit ist ein Symptom einer solchen Störung. Daher ist es vernünftig, entsprechende Hilfe zu suchen.

(b) Es ist besser, Sie lesen ein Buch, wie man darüber hinwegkommt, schüchtern, ängstlich, unsicher usw. zu sein, als Sie lesen ein solches Buch nicht, denn Sie könnten den einen oder anderen hilfreichen Hinweis bekommen, selbst aus einem Buch.

(c) Es ist besser, Sie lesen ein solches Buch nicht, weil die Wirkung solcher Bücher nur während der Lektüre und vielleicht noch fünfzehn Minuten danach anhält und daher Ihre Verzweiflung nur noch gesteigert würde.

(d) Es ist besser, Sie hören Leo Buscaglia zu, weil er über solche Sachen spricht wie Liebe, Zärtlichkeit und Offenheit für seine Mitmenschen.

(e) Es ist besser, Sie hören Leo Buscaglia nicht zu, weil Leo zwar durchaus unterhaltsam ist, aber sowohl Sie als auch Leo sich danach schlechter fühlen würden.

(f) Es ist besser, Sie lesen das Buch, das sie im Augenblick lesen, denn es ist zwar auch nicht viel besser, aber immerhin erzählt es Ihnen nichts darüber, wie Sie über Ihre Schüchternheit, Angst usw. hinwegkommen, sondern wirft diese Dinge nur als Fragen zwischen Schriftsteller und Leser auf und macht das Undarstellbare darstellbar, für eine Weile vielleicht sogar erträglich.

(g) Es ist besser, Sie suchen nicht bei einem Psychotherapeuten Hilfe, sondern azeptieren Ihre Schüchternheit, wenn sie auch noch so schmerzhaft ist, weil es besser für Sie ist, Ihr schüchternes Selbst zu sein als die Person, die der Psychotherapeut aus Ihnen machen will, nämlich eine wie er selbst.

(h) Es ist besser, Sie suchen Hilfe bei einem Psychotherapeuten, sofern der Psychotherapeut weiß, was nicht viele Psychotherapeuten wissen, nämlich daß der Schüchterne etwas wissen könnte, was der Nichtschüchterne nicht weiß: daß Ihr Selbst für Sie in der Tat undarstellbar ist, daß Sie ein Recht auf Ihre Schüchternheit haben, daß es Schwachsinn höheren Grades erfordert, nicht schüchtern zu sein, daß gerade die Undarstellbarkeit Ihres Selbst der einzige Anhaltspunkt ist, den Sie für Ihre Einmaligkeit haben, daß man ansonsten nur ein weiterer Ralph unter tausend Ralphen wird oder, schlimmer noch, eine Kopie des Psychotherapeuten." (Das furchtsame Selbst III, aus: Walker Percy: Loch im Kosmos.- Basel: Sphinx, 1991, S. 42f.)

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