4. September 2003

Die kontextabhängig antastbare Menschenwürde

Kennt Ihr das? Ein Ereignis, eine Begegnung scheint einem klarzumachen, wie es ums Ganze bestellt ist? Eine Kleinigkeit wird zum Leitsymptom?

Mir ging es so vor dem letzten Klitschko-Kampf: Die alltägliche, 5-minütige Meldung über die Kampfvorbereitungen und Pressekonferenen in den 19.00 Uhr-Nachrichten enthüllte mir schlagartig den Zustand des öffentlich-rechtlichen Senders ZDF. Mag noch so viel in der Welt passieren, so viel Zeit muß in "Heute" sein, daß das ZDF dort Product Placement in eigener Sache betreibt! Auch Du, Lerchenberg!

Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staatsrechtler und ehemaliger Verfassungsrichter, schilderte gestern in der FAZ (3.9.2003, 33 + 35) einen viel ernsteren Eye Opener: Im Maunz/Dürig, dem maßgeblichen Grundgesetz-Kommentar, erschien eine Neu-Bearbeitung der Kommentierung von Artikel 1 Absatz 1 GG. Wo die bisherige Kommentierung von Günter Dürig (aus dem Jahr 1958) in der Menschenwürdegarantie eine "Übernahme eines grundlegenden, in der europäischen Geistesgeschichte hervorgetretenen 'sittlichen Werts' in das positive Verfassungsrecht" sah, "das sich sich dadurch selbst auf ein vorpositives Fundament, eine Art naturrechtlicher Anker, wenn man so will bezieht", heißt für Böckenförde der "Schlüsselsatz" des neuen Kommentars von Matthias Herdegen:

"Trotz des kategorialen Würdeanspruchs aller Menschen sind Art und Maß des Würdeschutzes für Differenzierungen durchaus offen, die den konkreten Umständen Rechnung tragen." Wo das Maß des Würdeschutzes differenziert werden kann (und weil ein Kommentar auch normativ wirkt:) und werden soll, stellt Herdegen auch gleich fest: "Wenn sich der Würdeanspruch seinem Umfang nach überhaupt nach den konkreten Umstanden richten darf, muß dies in besonderer Weise für die Entwicklungsstufen menschlichen Lebens gelten."

Für Böckenförde heißt das: "Letztlich geht es um den Freiraum für die Gewährung und den Abbau von Würdeschutz nach Angemessenheit des Interpreten ... Auch bei den Ausprägungen der Menschenwürdegarantie, die näher behandelt werden zeigt sich eine gleitende Skala und die fehlende Erkennbarkeit eines festen Bodens."

Auch Böckenförde steht ratlos vor der Frage, wie die geschichtlich hervorgerufene tiefere Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde "Generationen binden" kann, "die diese Erfahrung [des massiven Unrechts und der kaum übersteigbaren Verachtung der Menschenwürde im 3. Reich; Scipio] nicht mehr haben, für die das 'Dritte Reich' schon und nur Geschichte ist, für die die Notwendigkeit eines bleibenden, unabdingbaren Halte- und Orientierungspunktes für die Ordnung des Zusammenlebens der Menschen keine Evidenz mehr hat?" Schlechte Aussichten für weniger Menschenwürdige.

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