4. Mai 2005

Jürgen Habermas über Vorpolitisches,den Kapitalismus und die Schuld des Papstes an der fortgesetzten Entchristianisierung Europas

"Die Welt: 2001 haben Sie in der Paulskirche die Aufklärung mit dem religiösen Denken zu versöhnen versucht. Dann diskutierten Sie mit Kardinal Ratzinger. Wie christlich ist Europa? Und stellt sich die Frage, wer europäischer ist, die Türkei oder die Ukraine?

Habermas: Die Katholische Kirche hat seit dem Zweiten Vatikanum mit dem "Liberalismus", d.h. mit Rechtsstaat und Demokratie, ihren Frieden gemacht. Deshalb gab es in der Frage der "vorpolitischen Grundlagen der Demokratie" zwischen dem damaligen Kardinal Ratzinger und mir keine großen Differenzen. Die Gemeinsamkeiten erstrecken sich auch auf bestimmte bioethische Fragen, die sich heute aus Fortschritten in Medizin, Gentechnik oder Hirnforschung ergeben. Mein Freund Johann Baptist Metz, der auf meinen Wunsch an jener Diskussion teilgenommen hat, war nachher über den milden Tenor der Auseinandersetzung etwas irritiert. Aber in den theologischen und kirchenpolitischen Streit wollte ich mich als Nicht-Katholik nicht einmischen.

Das heißt ja nicht, daß keine Meinungsgegensätze mehr bestehen. Ich sehe beispielsweise die möglichen Beitritte der Türkei und der Ukraine zur EU nicht als eine Alternative. Die unbestrittene Tatsache, daß die europäische Kultur tief im Christentum verwurzelt ist, kann das politische Gemeinwesen der europäischen Bürger nicht allein auf christliche Wertgrundlagen verpflichten. Die Europäische Union ist so wie auch jeder einzelne ihrer Mitgliedstaaten zur weltanschaulichen Neutralität gegenüber den rasch wachsenden Zahlen der säkularen und der nicht-christlichen Bürger verpflichtet. Das sollte man aber nicht zu einer säkularistischen Weltanschauung aufbauschen. Aus dem Gebot der Unparteilichkeit gegenüber allen Religionsgemeinschaften und allen Weltanschauungen ergibt sich noch nicht zwingend eine laizistische Kirchenpolitik, die heute selbst in Frankreich kritisiert wird.

Ich glaube, daß der liberale Staat schon aus eigenem Interesse behutsam mit allen Ressourcen umgehen sollte, aus denen sich die moralische Sensibilität seiner Bürger speist. Diese Ressourcen drohen um so eher auszutrocknen, je mehr die Lebenswelt ökonomischen Imperativen unterworfen wird. Nach neoliberalem Dogma zieht sich heute die Politik aus lebenswichtigen Bereichen wie Bildung, Energie, öffentlichem Verkehr und Kultur, auch aus der Vorsorge für die Standardrisiken des Arbeitsleben, immer weiter zurück und überläßt die sogenannten Modernisierungsverlierer sich selbst. Wenn wir den Kapitalismus nicht zähmen, fördert er eine ausgelaugte, eine entleerende Modernisierung. Angesichts dieser Tendenz zum Verdorren aller normativen Sensibilitäten verändert sich auch die politische Konstellation zwischen Aufklärung und Religion. Als ein säkularer Bürger sage ich, daß sich Glauben und Wissen selbstreflexiv der jeweils eigenen Grenzen vergewissern müssen.

Die Welt: Welche Bedeutung kann die Wahl von Joseph Ratzinger zum Papst für Europa und für Deutschland haben?

Habermas: Ich freue mich über die Geste, daß der Papst als erstes Land Polen besuchen will. Die persönliche Nähe zu seinem Vorgänger wird natürlich auch in Deutschland wahrgenommen. Andersgläubige oder säkulare Bürger müssen nicht unbedingt so kühl auf den neuen Papst reagieren wie Timothy Garton Ash. Es mag ja der Fall eintreten, daß die Entchristianisierung Europas im gleichen Rhythmus weiter fortschreitet, wie es - mit der einzigen Ausnahme Polens und Irlands - die Statistiken der letzten 60 Jahre belegen. Aber dafür gibt es konventionelle soziologische Erklärungen. An dem neuen Papst würde es mit Sicherheit nicht liegen. Im übrigen scheint die symbolische Bezugnahme auf Benedikt von Nursia, die mit der Wahl des Namens Benedikt XVI. verbunden ist, ein Hinweis darauf zu sein, daß dieser Papst selbst mit einer solchen Möglichkeit rechnet und die Kirche für eine Situation wetterfest machen will, in der die Christen zu einer Minderheit schrumpfen." (Aus dem Interview "Europa ist heute in einem miserablen Zustand" in der Welt)

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