Es soll jeder seine Meinung haben können, und wem es glückt, soll sie nicht nur von der Kanzel, sondern auch im Fernsehen und auf Kirchentagen sagen dürfen. Auch Jürgen Fliege. Gerade Jürgen Fliege. Wie sonst soll man "ins Gespräch über unterschiedliche Meinungen" kommen?
Sonst bleibt ja tatsächlich nur die die "Binx-Bolling-Alternative":
"Umfächelt und umhegt vom Sturm gehe ich zu Bett, geborgen wie eine Larve im Kokon, warm eingehüllt in christliche Freundlichkeit. Vom Sessel zum Bett und vom TV zum Radio, für ein kleines Schlummerprogramm. Ich folge dem Ritual der Gewohnheit wie ein Mönch, vergnüge mich an den alltäglichsten Wiederholungen und höre jede Nacht um zehn 'Woran ich glaube'. In dieser Sendung geben Hunderte der besten Geister dieses Landes, nachdenkliche und intelligente Leute, ihr Credo bekannt. Die zwei-, dreihundert, die ich bis jetzt gehört habe, waren ausnahmslos bewundernswert. Ich bezweifle, ob irgendein andres Land oder eine andre Zeit je so nachdenkliche und hochgeistige Menschen hervorgebracht hat (...)
Müßte ich all diese Leute mit einem gemeinsamen Merkmal kennzeichnen, so wäre das ihre Nettigkeit. Ihr Leben ist ein Triumph der Nettigkeit. Sie haben die wärmsten, großzügigsten Empfindungen und mögen jedermann. Und was sie selber angeht: auch der ärgste Griesgram muß sie mögen.
Die Hauptperson des heutigen Abends ist ein Dramatiker, der diese besondere Qualität auch in seine Stücke einbringt. Er fängt an:
'Ich glaube an die Menschen. Ich glaube an die Toleranz und an die Verständigung. Ich glaube an die Einzigartigkeit und an die Würde des Individuums -'
Jeder bei 'Woran ich glaube' glaubt an die Einzigartigkeit und Würde des Individuums. Aber es fällt auf, daß die Bekenner selber weit entfernt von Einzigartigkeit sind; daß sie in Wahrheit einander gleichen wie Erbsen in der Schote.
'Ich glaube an die Musik. Ich glaube an ein Kinderlächeln. Ich glaube an die Liebe. Ich glaube auch an den Haß.'
Wahr: ich bin einigen dieser Gläubigen im Haus meiner Tante begegnet, Humanisten und Psychologinnen. In 'Woran ich glaube' mögen sie jeden. Aber wenn es um diesen oder jenen geht, dann hassen sie ihn gewöhnlich auf den Tod.
'Woran ich glaube' hat mir nicht immer gefallen. Während ich bei meiner Tante wohnte, wurde ich davon in diabolische Zustände versetzt. Aber statt wie sonst einen Brief an eine Zeitung zu schreiben, besprach ich ein Band und ließ es Mr. Edward R. Murrow zukommen. 'Folgend die Glaubenswahrheiten von John Bickerson Bolling, Moviegoer, wohnhaft in New Orleans': so fing es an. Und so hörte es auf: 'Ich glaube an einen guten Tritt in den Hintern. Das ist es, woran ich glaube.' Ich habe diese Überreaktion freilich bald bedauert und war erleichtert, als das Band zurückgeschickt wurde. Seitdem bin ich ein treuer Hörer von 'Woran ich glaube'.
'Ich glaube an die Freiheit, an die Heiligkeit des Individuums, an die menschliche Brüderlichkeit -' (so schließt der Dramatiker).
'Ich glaube ans Glauben. Das ist es woran ich glaube.'
All die Zittrigkeit beim Gedanken an Sharon ist weg. Ich schalte das Radio aus und liege da, mit einem süßen Klingeln im Leib, einem Klingeln für Sharon und alle Mit-Menschen." (Walker Percy: Der Kinogeher. Frankfurt: Suhrkamp, 1986, S. 108 ff.)
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