17. November 2009

Meine Zeit in deinen Händen - Bericht aus einer geistlichen Übung

Wer nach einem langen Flug in den Vereinigten Staaten ankommt, kennt den Ablauf: Mit Handgepäck und Einreisepapieren stellt man sich in einer langen Reihe an, schlängelt sich langsam ans Kopfende der vielhunderköpfigen Wartenden, darf schließlich vortreten, beantwortet die paar Fragen des höflichen Beamten nach Zweck der Reise und geplantem Abreisedatum, wird fotografiert und legt die zehn Finger einzeln oder in Gruppen auf den Scanner. 99 % der Einreisewilligen dürfen dann ihr Gepäck abholen und ab geht's durch den Zoll in Obamas Reich.

Die wenigen Übrigen werden in ein "Secondary Office" gebracht und harren ihrer Behandlung. Auch hier gibt es eine gewisse Routine: Man wählt einen Platz in den meist nur halbvollen Sitzreihen und schaut den Beamten hinter dem erhöhten Schalter zu, die in gemessenem Tempo ihrer Arbeit nachgehen - die freilich bleibt rätselhaft, ebenso rätselhaft wie die Reihenfolge der Behandlung, über die man in etwa ab der fünften Minute nachzudenken beginnt. Die Pässe und Papiere werden zwar sorgfältig und schön der Reihe nach in eine Box deponiert, aber keinesfalls auch nach Eingang bearbeitet. Mal sitzen die zehn Latinos noch, die beim Hereinkommen schon da saßen, mal kommen scheinbar nur sie an die Reihe. Weiblicher Charme und weibliche Tränen beschleunigen wenig, desgleichen der Hinweis auf einen Anschlußflug oder auf die Länge des Aufenthaltes im Office.

Mit Kafka-Lektüre habe ich es bisher noch nicht probiert, nicht probieren müssen, denn in der Regel wurde ich nach höchstens 20 Minuten aufgerufen, bekam ein ähnliches kleines Interview wie zuvor am ersten Kontaktpunkt mit der Einwanderungsbehörde und ein paar aufmunternd-freundliche Worte des jeweiligen Officers mit auf den Weg. Helfen, meinte er wie seine Kollegen, würde nur ein Dauervisum, irgendwo im Zentralcomputer gebe es einen an sich harmlosen Vermerk, der freilich ausreiche, meine Einreise für eine Weile aufzuhalten.

Gestern nun war worst case angesagt: Die Reihen waren eng geschlossen, wie man vor 70 Jahren gesagt hätte, stets kamen neue Chinesen, Mexikaner, Portugiesen, Engländer, Franzosen jeden Alters und Geschlechts, die wie gewohnt in erratischer? enigmatischer? rätselhafter? - ja, man hat dort Zeit, sich absonderliche Synonyme auszudenken - Abfolge wieder entlassen oder sitzen gelassen wurden. Am Ende brachte ich es auf 120 Minuten, und daß ich nicht depressiv oder aggressiv wurde, verdanke ich nur der Tatsache, daß ich meine Lebenserfahrung in Sachen Secondary Office der Französin neben mir zuteil werden lassen konnte: Sie saß schon, als ich ankam, saß immer noch, als ich ging, und beschimpfte seit Minute 23 die Etats-Unis als "f_____g country", in das sie ja sowieso nie wollte und aus dem sie am liebsten gleich wieder abgeflogen wäre. Da war die mir zukommende Rolle, freundlich-ausgleichend und abgeklärt-cool zu wirken, was bei mir den aufkommenden Ärger im Keim erstickte.

Ein kleines Dankeschön an den HErrn aller Zeit für diesen eleganten Tugendverstärker und - ein bißchen zähneknirschend - für diesen Vorgeschmack auf etwaige spätere Ewigkeiten, weniger die SEine, so hoffe ich, als die andere, die mir und uns allen hoffentlich erspart bleibt.

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