"Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!" Jesus selber legt uns das durchaus drohend ans Herz. Die Mutter bringt es den Kindern beim Essen bei, als sie sich über diesen und jene moralisch empören. In kirchlichen Milieus allüberall üben wir diese Toleranz ein, die nicht einmal dann über einen anderen urteilt, wenn sie dessen Mokassins mehr als ein Jahr an den Füßen hatte und sie trotzdem noch drücken.
Ein paar Ausnahmen von der Regel mag es geben: Prophetische Empörung zum Beispiel, die überspitzt und in heiligem Zorn Versagen und Sünde anprangern darf. Das Prophetsein wird einem in diesem Fall von anderen zugesprochen, von Prophetenerkennern sozusagen, die Überheblichkeit von geistergriffenem Auftreten unterscheiden vermögen, die Vox populi als vox DEi oder als vox ignorantiae ausmachen können.
Wer dem HErrn gegenüber auf Nummer Sicher gehen möchte und keine prophetische Berufung in sich spürt, hält besser seinen Mund und denkt sich nicht mal mehr seinen Teil, sondern begnügt sich mit einem "There but for the grace of God go I".
Doch manchmal, manchmal überfällt einen der Zweifel: Kastrieren wir da nicht unser moralisches Urteilsvermögen? Kommen wir nicht von einem "Alles verstehen" ganz einfach, still und leise zum "Alles verzeihen"? Gut gemeint ist oft genug das Gegenteil von gut - doch wir schweigen, weil wir die guten Gründe der anderen respektieren?
Nehmen wir einen Fall, der mich in den letzten Tagen umgetrieben hat: "A" lässt sich kurz nach seinem 25-jährigen Priesterjubiläum für die Seelsorge in einem Land am anderen Ende der Welt freistellen, lernt dort eine junge Frau kennen und zwar per "Liebe auf den ersten Blick", macht es sich nicht einfach in puncto Liebesbeziehung, klärt seine Pfarrei eines Sonntags über die Tatsachen (u.a. Schwangerschaft im dritten Monat) auf, heiratet zivil, erscheint als Flitterwöchner mit Gattin, in Badehose und glücklich in der Tageszeitung der drittgrößten Stadt des Landes und kündigt in einem Artikel, der ein paar Monate später erscheint, an, ein Buch über sein Glück und übers Vatersein zu schreiben zu wollen - mit Baby im Arm.
Ich bin der letzte, der anderen keine neuen und grundstürzenden Erkenntnisse des Willens GOttes zugesteht. Die erste und wahre Liebe, die Geburt des ersten Kindes - das können durchaus veständliche, nachvollziehbare Auslöser sein für ein ganz anderes Weltbild, in diesem Fall für Schritte aus dem Priestertum hinaus. Ich habe gute Freunde, denen es so erging, oder sollen wir weniger passivisch sagen: die diesen Weg gingen, der nicht einfach war und ist. "Als ehemaliger Priester hast du nicht viele Chancen im Berufsleben", schrieb mr einmal einer von ihnen.
Aber müsste es im Fall "A" anstelle von öffentlicher Selbstdarstellung privaten Glücks auf der Regenbogenseite der Zeitung nicht noch eine andere Alternative geben? Muß, wer sich nicht verstecken will, wirklich ins Rampenlicht treten, mit Schlagzeilen statt Sonntagspredigt?
Und um die Kurve zum Ausgangspunkt zu nehmen: Entgegen meiner Sozialisation nehme ich mir die Freiheit, an dieser Geschichte so manches nicht nur daneben zu finden, sondern mies und sogar besch... Im Wissen um das Wort Jesu und mein eigenes glückliches Geschick sicher, aber trotzdem. Hier hat jemand versagt - nicht vor dem Ruf GOTTes ins oder aus dem Priestertum (wie sollte ich das beurteilen?), aber bei seinen ersten Schritten in die Welt, die mit den Naiven ihr eigenes Spiel spielt und sie in ihren eigenen Dienst nimmt - Paulus (Röm 12, 2), Jakobus (Jak 4, 4) und ER selbst (Mt 18, 7) kennen diese Spielchen und warnen ausdrücklich.
Wir alle werden auf beiden Augen blind, wenn wir uns im Spiegel anschauen. Besonders wenn wir glücklich sind. Gerade dann sollten wir uns weniger denn je trauen, uns und dem, was wir tun. Nicht nur Verzweifelte fahren vollbesetzte Autos gegen Brückenpfeiler, sondern auch Volltrunkene. Wer mit einem Kater aufwacht, hat dann wenigstens überlebt. Hoffen wir, daß das hier auch geschieht oder geschehen ist.
Ansonsten das übliche "Oremus".
Schönen Sonntag noch ringsum.
20. August 2006
Alles verstehen, nicht alles verzeihen
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1 Kommentar:
Sehr schöner Text. Kann jetzt nicht mehr dazu sagen, weil ich ein Abi von 3,3 hab (höhö, Ausrede), nein, ernsthaft, weil es nichts zu ergänzen gibt. 100 Punkte, Herr Scipio!
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