"Kein Christ kann der Sohnesliebe zur mütterlichen Kirche entwachsen.
Er kann sich in seiner christlichen Liebe höchstens entwickeln, indem er den anfänglichen Anschein eines Gegenüber von Christ und Kirche, einer Gegen-ständlichkeit immer mehr überwindet, um sich mit der Gesinnung der Kirche in ihrem Kern zu identifizieren. Dies würde gerade nicht heißen, daß er der Kirche als einer fälschlich objektivierten Größe entwächst in eine rein personale Beziehung der Liebe zu Christus und zu den Brüdern hinein, sondern daß er in die Kirche so hineinwächst, daß er als Kirche, in ihrem Geist und in ihrer Gestalt, die Akte kirchlicher Liebe zu Christus und zu den Brüdern mitvollzieht - nicht privat, sondern in der Circumincession mit allen 'animae ecclesiasticae'.
An den Heiligen kann jeder erkennen, daß dies möglich ist, wie das zugeht, und wie wenig es die besondere Persönlichkeit eines Einzelnen nivelliert. Den Heiligen ist es eigen, kirchliches Pneuma und kirchliche Institution in keinen Gegensatz zu stellen, sondern die Einheit beider als Folge derMenschwerdung Gottes zu erkennen. Auch dort, wo sie Institutionelles zu kritisieren haben, weil die Erbsündeneigung des Menschen und seine Trägheit es immer wieder mißbraucht, tun sie es aus der wahren Einheit von Pneuma und Institution heraus. Für die Welt der Sakramente aus der Ehrfurcht vor deren Heiligkeit heraus, für die Sphäre des Amtes aus einer grundsätzlichen Gehorsamsbereitschaft heraus, die an bestimmten Stellen widersprechen, ja kontestieren kann, um das reine Gehorsamsverhältnis wiederherzustellen.
Denn die Heiligen lieben in der ungetrennten kirchlichen Einheit von Pneuma und Institution den Geist Jesu Christi, der Knechtsgestalt annahm, sich selbst erniedrigte und gehorsam wurde bis zum Tod, sogar bis zum Tod am Kreuz."
(Hans Urs von Balthasar: Pneuma und Institution, zit. nach: In der Fülle des Glaubens: Hans Urs von Balthasar-Lesebuch.- Freiburg: Herder, 1980, S. 306)
22. Mai 2010
Identifikation und Kritik
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