Ich sah vorhin bei Martina auf glaubenssache den Hinweis auf den "Aufruf für eine prophetische Kirche". Dann überflog ich den Text des Aufrufs und scannte die "Unterzeichnenden": Tatsächlich, dachte ich mir, es gibt "keinen katholischen Christen ..., der das nicht unterzeichnen möchte": Die Bischöfe Genn und Algermissen, die Pfarrer Kerstiens und Breitenbach, die Organisationen BdkJ und IKvU, die Hilfswerke missio, Misereor und Adveniat, Ordensobere und Dogmatikprofessoren, Norbert Blüm und Christa Nickels. Wer kann sich da der guten und gottgewollten Sache verweigern?
Doch dann saß ich in der Küche und schenkte mir ein Weizen ein. Und - ungelogen - dachte ich an Heinrich Böll und seinen "Brief an einen jungen Katholiken". Ich habe den nie ganz gelesen, aber eine Stelle, die Carl Amery in seiner "Kapitulation" zitiert, die hat sich eingeprägt. Die war es auch, die mir einfiel. Sie lautet:
"So können Sie, lieber Herr M., bei Pfarrer U. getrost etwaige Zweifel am Dogma von der leiblichen Himmelfahrt Mariens äußern; es wird Ihnen eine höchst subtile, gescheite und theologisch saubere Unterweisung zuteil werden; sollte es Ihnen jedoch einfallen, Zweifel am (unausgesprochenen) Dogma von der Unfehlbarkeit der CDU zu äußern, so wird Pfarrer U. auf eine nervöse Weise ungemütlich und unsubtil. Sie können auch getrost das Gespräch auf die Christusvision des Heiligen Vater bringen; man wird Sie auf eine liebenswürdige Weise darüber aufklären, daß Sie nicht verpflichtet sind, daran zu glauben; aber sollten Sie Zweifel äußern an irgendeinem Satz des Heiligen Vaters, der eine Wiederbewaffnung Deutschlands rechtfertigen könnte, wird das Gespräch wiederum höchst ungemütlich." (zit. nach C. Amery: Die Kapitulation oder Deutscher Katholizismus heute.- Reinbek: Rowohlt, 1963, 107)
Tauschen wir "CDU" gegen die "Klimaforscher" aus, und ersetzen "Wiederbewaffnung Deutschlands" mit "Kritik an der kapitalistischen Wirtschaftsordnung" - dann hätten wir Bölls Brief ganz gut ins Jahr 2010 übersetzt, denke ich mir.
Ob Du glaubst, mein Lieber, daß der HErr Jesus leibhaftig auferstanden ist oder "nur" in seine "Sache", die "weitergeht", kümmert nicht. Du magst die Catholica für die größte Hure seit Menschengedenken ansehen und Dein Zugehören zu ihr als optional oder als Chance, sie zu ändern - oder magst Dein Credo direkt aus dem Katechismus oder aus dem Mund des Heiligen Vaters beziehen: Egal. Hauptsache, Du zweifelst nicht an den Grundwahrheiten unseres Christseins, wie Du sie im Aufruf nachlesen kannst.
Mit anderen Worten: Nicht mehr das Credo ist unser kleinster gemeinsamer Nenner - sondern die gesellschaftliche Rolle der Kirche. Offenbarung verschafft uns nicht mehr das Duo Schrift und Tradition, sondern eine bestimmte Interpretation der Zeichen der Zeit. Die Dogmen freilich werden immer noch vom sensus fidelium, vom Glaubenssinn des Gottesvolkes getragen - nur sind sie jetzt endlich unmittelbar praxisrelevant und stehen im Dienst einer "biblisch-christlichen Vision einer anderen Welt- und Werteordnung".
Aber vielleicht sehe ich das alles zu kritisch und sollte mich stattdessen freuen, daß deutsche Katholiken immer noch fähig sind, von ganz verschiedenen Credos ausgehend und ganz unterschiedliche Hermeneutiken praktizierend, den gleichen Aufruf zur Weltverbesserung zu unterzeichnen. Ganz wie Schüler, die einander widersprechende Rechenwege gehen und am Ende doch alle das gleiche Ergebnis fett unterstreichen.
Fragt sich nur, ob der Mathelehrer das so gut findet.
4. Mai 2010
Böll und Deutscher Katholizismus heute
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2 Kommentare:
Deine Analyse ist treffend. Ich kann nur zustimmen.
Du hast einmal wieder mein Unbehagen auf den Punkt gebracht: an sich ist der Aufruf gut und löblich.
Und das erschwert es der Irritation, sich zu artikulieren, der Irritation darüber, dass das nicht wirklich das Thema ist, das die Kirche treiben soll.
Es ist durchaus ein Produkt, das aus dem intensiven Leben des Glaubens sich ergibt, eine Folge von aber anderen "Intensitäten" die selbst überhaupt nicht politisch sind,
Und das Gefühl, dass die Untezeichnung solcher Aufrufe nur das eine tut und das andere eben eher lässt, entspricht für mich dem, mich auf eine Brücke über einen Abgrung zu begeben, ohne dass diese die richtigen Stützpfeiler besäße.
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