Tina Mendelsohn fragte sich vor einigen Tagen bei der FAZ, was sie ihren Kindern von der Welt nach Bombay und nach der Lehman-Pleite erzählen könne, fragte sich gar: "Was für eine Generation wächst hier heran" in dieser unheilen Welt?, und schloß:
"Als wir aufwuchsen in der soliden jungen Bundesrepublik, da hat uns keiner Geschichten erzählt, schon gar keine Familiengeschichten. Dabei sind das Geschichten fürs Leben."
Daß ihr keiner solche Geschichten erzählte wie wir sie jetzt über den kleinen Mosche Holtzberg hören, kann nicht an der Solidität und Jugend der Republik gelegen haben. Denn meine - der ihren ziemlich gleichzeitige - Jugend in der gleichen Republik wimmelte von ähnlichen tragischen Geschichten, und immer ereigneten sich neue: Verkehrsunfälle, die eine Geschwisterschar als Vollwaisen hinterließen; Suizide in Häusern, an denen man auf dem Weg zum Kindergarten zweimal täglich vorbeikam; Kriegsinvaliden des Ersten und des Zweiten Krieges und alte Muttchen in schlesischer Tracht; Firmenpleiten aufgrund von Selbstüberschätzung und Leichtsinn; öffentlich sichtbarer Alkoholmißbrauch mit allen Peinlichkeiten... Alltägliche Katastrophen in jeder Familie - und wer selber keine erlebte, der dachte immer sein "noch nicht" dazu.
Die Einführung in das "Es ist nicht einfach, das Leben" passierte stetig, unpathetisch, unaufgeregt, doch mitfühlend und besorgt. Freilich spielte sich der kleinere Teil der aktuellen Katastrophen am Schnittpunkt von Weltpolitik und individuellem Schicksal ab, doch ersatzweise gab es den nahen, gerade erst zwanzig Jahre vergangenen Krieg, die letzten Bombentrichter im Wald, die zugemauerten Bunker und die Erzählungen der Großmutter über die Tage und Nächte von 1944 und 1945.
Geschichten fürs Leben passieren laufend. Schon immer und unaufhörlich. Man muß dafür nicht einmal in der Provinz leben, wie ich in meiner Kindheit. Man muß nur "den Leuten" zuhören.
14. Dezember 2008
Geschichten fürs Leben
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