19. September 2005

Sonntag mittags in Deutschland

Es mag ja sein, daß ich meinen gestrigen Sonntag nachmittag lediglich dafür opferte, "irgendwelche Machtansprüche aus formalen Gründen"(G. Schröder) zu ermöglichen, vulgo die Zeit von 14.30 - 19.00 als Beisitzer in einem Wahllokal zu verbringen.

Meine Frau hätte mich lieber zuhause gesehen und hört daher nicht gern, daß diese Stunden für mich nicht nur amüsant und fröhlich waren, sondern auch nutzbringend verbracht.

Das Wahllokal ist ein Ort, zu dem sich die Wähler aufmachen, in dem sie einander "Hallo" sagen, sich für den Stimmzettel anstellen, schüchtern lächeln und höflich grüßen, förmlich werden, ihre politische Meinung und ihre Zweifel nicht mehr auf den Lippen tragen, sondern in die zwei Kreuzchen konzentrieren, die sie - der eine schnell, die andere langsam und zögerlich, der nächste gewissenhaft, der vierte nonchalant - auf den Stimmzettel setzen. Die Förmlichkeit, die Nüchternheit der Demokratie wird für den Normalbürger selten so erlebbar wie in den Minuten, die er in seinem Wahllokal verbringt.

"Playing by the rules" in Reinessenz - umso schlimmer, wenn sich am Ende einer hinstellt und genau diese Formalität denunziert. Umso schlimmer, wenn es der Bundeskanzler selber ist. Umso schlimmer für ihn selbst.

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Wie du jetzt Schröders Aussage aus dem Zusammenhang reißt ist aber auch nicht in Ordnung. Aus den Formalitäten der Bundestagswahl folgt die Zusammensetzung des Bundestages, und die hat der Bundeskanzler nie in Frage gestellt.

Seine Aussage bezog sich nur auf den Machtanspruch einer Kanzlerkandidatin aus Gepflogenheit. Diese Gepflogenheit ist nun aber gerade _nicht_ Teil der echten Formalität, also der Verfassung und des Wahlgesetzes. Es steht nirgendwo geschrieben, daß die stärkste Fraktion den Kanzler stellt.

Scipio hat gesagt…

Zitat Schröder:

„Gucken Sie sich doch einmal an, was den Aufholprozeß in dieser Gesellschaft im Wahlkampf wirklich verursacht hat, das war doch neben dem inhaltlichen Vergleich auch ein Vergleich der handelnden Personen, und deswegen kann es doch hier nicht darum gehen, irgendwelche Machtansprüche aus formalen Gründen zu erheben, so sehr sie Ihnen auch nahe sein mögen. Das wird nicht akzeptiert werden.”

Nun wählen wir den Kanzler nicht direkt, sondern einen MdB und eine Partei. Von den Gründen, warum wir genau diese und keine andere Wahl treffen - telegener Schröder, Zweitstimmenkampagne, vereinfachtes Steuerkonzept, ... - bleiben nur zwei Kreuzchen übrig. Höchst formal also.

Schröder beruft sich für mich auf einen konstruierten Wählerwillen, den er aus seiner Popularität abliest. Und wertet die Tatsache ab, daß es nach der Wahl eben formal zugeht. Daß reine Zahlen zählen, und keine Umfrageergebnisse. Das wäre vielleicht nicht weiter schlimm, wenn es das erste Mal wäre. Nur ist der liebe Herr kein Ersttäter. Seine Vertrauensfrage war doch auch nur möglich, in dem er die Form zugunsten seiner Person und eines nur demographisch fassbaren Volkswillens ab- und entwertete.

Für mich ist dieser nonchalante Umgang mit demokratischen Formen die Erblast der letzten sieben Jahre schlechthin.

mr94 hat gesagt…

Na, ich weiß nicht... Mir ist die Ära Kohl noch in lebendiger Erinnerung. Der schwarze Riese pflegte einen anderen, aber keineswegs besseren Stil und war ansonsten ein Machtmensch von gleichem Kaliber wie Schröder, der sich ebenso wenig um Details scherte.

Es ist und bleibt die große Schwäche der Union, dass sie nach wie vor keinen Kanzlerkandidaten hat, der Schröder (und Kohl) das Wasser reichen könnte. Und ich kann nicht einmal einen heranwachsenden Kandidaten erkennen.

Hinzu kommt eines: Es ist die dritte Wahl in Folge ohne bürgerliche Mehrheit. Insofern steht der Machtanspruch von Angela Merkel auf tönernen Füßen. Sie wird ihn im besten Fall noch parteiintern durchsetzen können, aber keinesfalls eine absolute Mehrheit im Bundestag für ihre Kanzlerschaft bekommen.

Und in dieses Vakuum stößt Schröder vor. Mit aller Brutalität und dem Instinkt des Machtmenschen, der weiß, dass die nächste Runde gerade erst begonnen hat.

Zur Vertrauensfrage gäbe es viel zu sagen, aber dazu nur eine Anmerkung: Der Name "Vertrauensfrage" führt in die Irre. Von dieser Irritation hat sich Kohl 1982/83 so wenig beeindrucken lassen wie Schröder 2005.