Rüdiger Safranski im Interview mit der Stuttgarter Zeitung:
"RS: ... Wir brauchen diese Körper, die uns als Individuum schützend umhüllen.
Gehört zu diesen Körpern auch die neuerdings wieder hoch gepriesene Familie?
RS: Natürlich! Um den Menschen legen sich konzentrische Kreise, wobei der Familienkreis unmittelbar auf jenen Kreis folgt, den das Individuum selbst um sich legt. Auf die Familie folgen dann die Region, die Tradition und die Religion. Hinzu kommen der Staat und die Staatengemeinschaft - aber das sind schon sehr große, abstrakte Kreise, die man, wenn man ehrlich ist, nicht mehr mit Gefühlen aufladen kann, im Gegensatz zur Familie.
Aber diese Familie befindet sich doch, zumindest bei uns in Deutschland, in der größten Krise ihrer Geschichte!
RS: Das ist ein Problem. Der Mensch ist ein Familientier, anthropologisch gesehen. Erst seit neuester Zeit beginnt sich das zu verändern. Es entwickeln sich Single-Naturen, über deren geistige Existenz sich schon einiges sagen lässt. In Familien und Großfamilien beispielsweise konnte es früher nicht zu einer derart massiven Verdrängung des Todes kommen, der Umgang mit dem Tod wurde schon auf Grund der Familiengrößen wie selbstverständlich erlernt. Eine atomisierte Single-Gesellschaft aber wird den Tod weiter verdrängen und dadurch unterschwellig neue Panikgefühle schaffen. In der Summe führt das zu einer dramatischen Unreife in der Gestaltung des Lebens. Noch ein Beispiel: für kinderlose Singles verliert das Denken in Generationsketten seine Bedeutung. Sie verhalten sich also mehr und mehr als Endverbraucher, die sich selbst als Ende der Fahnenstange sehen. Wenn diese Mentalität an die Macht kommt, ist keine Zukunftspolitik mehr möglich.
(...)
Lassen Sie uns auf die konzentrischen Kreise zurückkommen. Welche Rolle kann die Religion in unserem Leben spielen?
RS: Eine Religion lebt dann am besten, wenn sie von Kindheit an in die Menschen kommt. Dann schlägt sie Wurzeln und kann Halt bieten, das ist der Idealfall. Die Realität sieht aber oft anders aus. Mit Blick auf den Islam wird immer auf die bei uns herrschende Trennung von Staat und Religion hingewiesen. Das stimmt und ist auch gut so. Nur: als es zu dieser Trennung kam, lag in der Waagschale der Religion noch ein Gewicht, eine Spiritualität, ein Sinngefühl. Weil uns das alles aber abhanden zu kommen droht, kann die politische Vernunft in der anderen Waagschale nicht mehr richtig austariert werden. Wir entwickeln deshalb eine Toleranz, die an spirituelle Gleichgültigkeit grenzt und Orientierungslosigkeit zur Folge hat. Für die Innensteuerung des Menschen ist das ein Defizit."
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