19. Januar 2003

Lob des Vergessens

Der Hinweis von Steven Riddle brachte mich dazu, wieder einmal die »Worte ins Schweigen« von Karl Rahner aufzuschlagen. Ich blieb bei dem Gebet an den »Gott der Erkenntnis« hängen. Der erste (und wie es sich für Rahner gehört: lange) Absatz hat ein ganz erstaunliches Thema: das Vergessen. Was als Klage beginnt, verwandelt sich in ein kleines Lob des Vergessens. Zur besseren Lesbarkeit in kleinere Absätze unterteilt, hier dieser erste Teil:

"Was habe ich nicht schon alles durch meinen Geist ziehen lassen, gedacht und gelernt, mein Gott! Nicht, als ob ich nun wüßte, was ich gelernt habe. Ich habe vieles gelernt, weil ich mußte oder weil ich selber es wollte. Aber das Endergebnis ist beide Male dasselbe: ich habe es wieder vergessen. Vergessen, weil der arme, enge Geist das eine nicht aufnehmen und behalten kann, wenn er das andere nicht wieder versinken läßt, vergessen, weil vielleicht auch schon beim Lernen eine geheime Gleichgültigkeit mich daran hinderte, daß ein neues Wissen mehr werde als ein neuer Gegenstand der Langweile und des Vergessens.

Jedenfalls habe ich das meiste gelernt, um es wieder zu vergessen und um die Erfahrung meiner Armut, Enge und Beschränktheit auch im Wissen zu machen. Ja, dieses 'um zu' ist kein Sprachfehler, den die Grammatiker oder Logiker rot anstreichen dürften. Denn siehe, Herr: Wenn das Vergessen und Versinken nur ein trauriges Mißgeschick, nicht aber das rechte Ende all meines Wissens und all meiner Wissenschaft wäre, dann müßte ich ja wünschen, noch alles zu wissen, was ich einmal gelernt habe.

Aber nein, mir graut vor diesem Gedanken: ich wüßte noch alles, was ich in den vielen Fächern der Schule und der Universität gehört und mir eingelernt habe, ich wüßte noch, was ich in müßigen Gesprächen vernommen, in fremden Ländern gesehen und in Museen schon betrachtet habe. Was hätte ich von all dem, wenn ich es wüßte? Wäre ich reicher, erfüllter? Wie sollte ich überhaupt das alles noch besitzen? Sollte ich es im Gedächtnis gleichsam eingelagert zur Verfügung haben, um es einzeln bei Bedarf hervorzuholen? Aber wozu sollte ich so all dessen noch bedürfen? Ich müßte ja dann mein Leben noch einmal von vorne leben. Oder sollten - im Idealfall - all diese Erkenntnisse auf einmal gewußt vor meinem Geiste stehen? Aber was sollte dieser wirre unübersehbare Schwarm von gewußten Dingen und einmal erworbenen Kenntnissen in meinem Bewußtsein mir helfen können?

Mein Gott, es ist gut, zu vergessen, und an den meisten Dingen, die ich einmal wußte, ist die beste Seite, daß man sie wieder versinken lassen kann, daß man sie und ihr Wissen von ihnen durchschaut in ihrer Ärmlichkeit."

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