15. Juli 2004

Facing Reality

Das Problem mit dem St. Pölten-Skandal ist, daß jeder meint, er wisse, was dort geschehen ist. Um die relativ wenigen bekannten Fakten hat sich eine dichte Wolke von Vermutungen, Urteilen, Schlußfolgerungen, moralischen Gewissheiten und Vorverurteilungen gelegt. Der Endkampf um Bischof Krenn und seinen Sonderweg scheint eingeläutet. Österreichische Öffentlichkeit und die katholische Linke (und wohl auch die Mitte) nutzen die Gelegenheit zur Abrechnung. Bischof Krenn heizt die Stimmung mit naiven? ungeschickten? dummen? Sprüchen - "Bubenstreiche", "Dreck" - weiter an. (Klarer Kandidat für meine Schublade "Geweihte Idioten", womit ich erst einmal ganz nüchtern den Sachverhalt meine, daß weder Priester- noch Bischofsweihe die Natur quasi-automatisch "vollenden", sondern vorhandene Dummheit, Frechheit, Ungeschicklichkeit, Naivität so belassen, wie sie sind.)

Wundern tut mich an dem Ganzen nichts, "nil humanum mihi et ecclesiae alienum est - nichts Menschliches ist mir fremd - und der Kirche auch nicht." (Zur Bestätigung ein kurzer Blick nach Tucson, AZ, wo der ehemalige Bischof in Vorbereitung seiner endgültigen Begegnung mit dem HErrn eine schriftliche Zeugenaussage gemacht hat.)

"Die Wahrheit wird euch frei machen." Das wird gewiß nicht schmerzlos gehen. Und wer den Schmerz vermeiden will wie Bischof Krenn, indem er auf seinem Recht besteht, die Affäre innerdiözesan zu lösen, wird schon bald wieder davon eingeholt werden. Warum nicht - neben den polizeilich-staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen in Sachen "Kinderpornographie" - eine unabhängige Kommission, die auch das Vertrauen der anderen österreichischen Bischöfe und vielleicht sogar der schwammigen Unperson "Öffentlichkeit" hat und die strafrechtlich nicht relevanten Vorgänge untersucht? Die auch die Personalpolitik (incl. der Auswahlkriterien für Seminaristen und Seminarleitung) unter die Lupe nimmt? Die alle Aspekte klärt, in denen das Seminar und sein Umfeld nicht mit der ja auch von Bischof Krenn geteilten kirchlichen Lehre und Lebenspraxis übereinstimmt?

Wenn dann alles nicht so schlimm war, wenn die Medien in ihrer Suche nach Skandalen und Sensationen und in ihrer Konkurrenz zum Mit-Sinnvermittler Kirche aufgebauscht und übertrieben haben - glauben ich (und der Rest der Welt) es lieber und leichter, wenn Ankläger, Richter und Angeklagter nicht die gleiche Person sind (oder von dieser einen Person Abhängige).

Ansonsten müssen wir damit leben, daß die Kirche mit eben den Maßstäben gemessen wird, mit denen sie sich und ihre Gläubigen misst. Glücklich, wenn mein, dein, unser Versagen nur Gott (und dem Beichtpriester) bekannt ist. Aber wenn andere auch darum wissen, dann dürfen wir es nicht leugnen, sondern könnten ihre Empörung und ihren Zorn als Grund nehmen, endlich (wieder) werden zu wollen, was wir sind: "ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das sein besonderes Eigentum wurde" (1 Petr 2, 9). Das kann man überall wollen; dazu muß man nicht an der Spitze eines Bistums sitzen bleiben. Schon ein Ärgernis, das ich durch moralisch neutrales Tun anderen gebe, soll nach Paulus abgestellt werden - um wie viel mehr, wenn ich Dinge wie jetzt zu untersuchenden zu verantworten habe. Dann kann sich das Hirte-sein im Rücktritt bewähren.

St. Hippolytus, ora pro nobis.

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